Bundesweiter Volksentscheid

Moritz Klingmann hat einen Leserbrief an den Herausgeber der Nachdenkseiten geschrieben. Auslöser war ein Artikel, der dem Thema Volksentscheid nicht sonderlich viel Positives abgewinnen konnte, wie es bei einer Überschrift "Sind Volksentscheide das Gelbe vom Ei? Bringen sie uns wirklich weiter? Sehr fraglich." nicht anders zu erwarten war. Siehe:  http://www.nachdenkseiten.de/?p=40332 Nachdem Albrecht Müller eine Fülle von Leserbriefen als Reaktion auf seinen Artikel bekommen hat, hat er diese in Form einer interessanten Auswahl (mit dabei der Leserbrief von Moritz Klingmann, der hier gesondert aufgeführt werden soll) dankenswerterweise veröffentlicht. Siehe:  http://www.nachdenkseiten.de/?p=40353#more-40353

Sehr geehrter Herr Müller,

Danke dass Sie sich nun doch noch einmal zu diesem Thema geäußert haben und dabei die Gründe für Ihre ablehnende Haltung offen legen. Damit
ist der missglückte Kampagnen-Versuch von Mehr Demokratie zumindest nicht völlig nutzlos.
Was Ihre Argumentation betrifft, so finde ich Sie einerseits menschlich gut nachvollziehbar, andererseits enthält sie so offensichtliche
logische Ungereimtheiten, dass ich mich tatsächlich frage, warum Ihnen das nicht auffällt.

Zunächst das konkrete Beispiel: Die Schweizer haben eine womöglich sinnvolle Rentenreform abgelehnt. Ich bin nun nicht in der Lage,
die Sinnhaftigkeit der Reform auf die Schnelle zu beurteilen. Deshalb will ich mich hier ganz allgemein ausdrücken: Sie werden ihre Gründe
gehabt haben. Möglicherweise waren es egoistische Gründe. Allerdings rein egoistisch können die Entscheidungsgründe der Schweizer wohl nicht
sein, sonst würde der Schweizer Staat nicht funktionieren. In mancherlei Hinsicht mögen die Schweizer sogar über ein rationaleres
Sozialversicherungssystem verfügen als wir in Deutschland. Ob also die Schweiz mit diesem konkreten Entscheid weiter gekommen ist oder
nicht, ob sie durch den nun nötig werdenden erneuerten Gesetzgebungsprozess weiter kommen wird oder nicht, das bedarf wohl einer genaueren
Analyse. In jedem Fall haben die Schweizerinnen und Schweizer ihren parlamentarischen Entscheidungsgremien zu signalisieren vermocht,
dass sie so mit diesem konkreten Gesetz nicht einverstanden sind und dass diese es sich bitte noch einmal vornehmen sollen.
Wir in Bürger in Deutschland können das nicht. Sind wir nun dadurch im Vorteil gegenüber den Schweizer Bürgern? Ist dadurch unser
Gesetzgebungsprozess besser geschützt gegen die Einflussnahmen egoistischer Interessengruppen? Wenn Sie einen Augenblick über diese
Frage nachdenken möchten, kann ich mir die weitere Argumentation eigentlich ersparen.

Wie gesagt, ich verstehe Ihre Vorbehalte sehr gut. Die Einflussnahme durch Lobbyinteressen in der Politik ist ein Problem, dem wir uns
stellen müssen. Die Bedürfnisse und berechtigten Interessen, gerade die langfristigen Interessen der Mehrheit kommen allzu oft unter die
Räder. Die Frage ist, was wirkt dem entgegen, wo ist der Ansatzpunkt.Besteht er darin, Teilhabe an der Gesetzgebung durch die Bürgerinnen und
Bürger zu verhindern? Nehmen wir als Exempel die Bundestagswahl. 12,6 Prozent für die AfD. Die FDP mit 10,7 Prozent wieder im Bundestag. CDU/CSU werden sich in
der kommenden Legislaturperiode politisch nach rechts bewegen, besonders die CSU wird die rechten Parolen der AfD aufgreifen in der Hoffnung,
Wähler vom rechten Rand zurückzugewinnen. Welche Risiken in diesem rein parlamentarischen System "schlummern" kann man derzeit in einigen
osteuropäischen Ländern besichtigen. In Frankreich stand das System bereits in diesem Jahr auf der Kippe. In Österreich sieht es auch
nicht viel besser aus. Wie wird wohl die Entwicklung in Deutschland weiter gehen?

Dass unsere "Blockparteien" trotz der nun schon seit Längerem offenkundigen Risiken den neoliberalen Dogmen treu geblieben sind
und voraussichtlich weiter treu bleiben werden - wie können wir uns das überhaupt erklären? Können wir hier das Wirken egoistischer und
sehr finanzkräftiger Lobbygruppen der Großindustrie, multinationaler Konzerne, superreicher Individuen in seinen Auswirkungen studieren?
Ist es nun effektiver eine Bevölkerung durch den Einsatz möglicherweise manipulierter Medien zu beeinflussen, auf dass sie bei einem
Volksentscheid gegen ihre eigenen Interessen votiert? Oder ist es erfolgversprechender zweigleisig zu verfahren: Beeinflussung der
Stimmung in der Bevölkerung, um die gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen und gleichzeitig direkte Beeinflussung der Entscheidungsträger
in den Ministerien und Parlamenten? Diese treffen dann ihre im Zweifel auch mal unpopulären aber alternativlosen Entscheidungen und die
Medien tragen dazu bei, dass der Aufschrei nicht zu groß wird und andere Themen auf die Agenda kommen.

Die Beeinflussung der Öffentlichkeit ist eine nicht gar so einfache Sache, denn sie lässt sich nur bis zu einem gewissen Grad verdeckt
durchführen. Ein Zweites kommt hinzu: Wenn ich den Leuten noch so geschickt einrede: Ihr müsst länger arbeiten.
Die Reichen sollten möglichst keine Steuern zahlen. Haltet euch bei den Lohnforderungen zurück. Altersvorsorge macht ihr besser auf eigene Faust.... ...
Irgendwann merken die Leute, dass sich ihre Situation über die Jahre nicht verbessert, sondern verschlechtert, und spätestens dann beginnen
sie sich zu fragen, warum das wohl so ist. Da kann die Manipulation noch so geschickt sein.

Warum wählen also die Menschen vermeintlich gegen ihre eigenen Interessen AfD oder Front National? Unter anderem weil viele und
immer mehr jegliches Vertrauen in die bürgerlichen Parteien verloren haben. Weil sie denen - bildlich gesagt - in die Fresse spucken wollen.
Das ist die einzige Möglichkeit, die unsere rein repräsentative Demokratie die Bürgerinnen und Bürgern zu lassen scheint. Weil wir das gerade
erleben, sollten wir uns fragen: An welcher Stelle können wir den Bürgerinnen und Bürgern verbindliche konstruktive Möglichkeiten an die Hand geben,ihre
Interessen zu wahren. Der bundesweite Volksentscheid wäre hier ein konsequenter und übrigens auch der einzige konsequente Ansatzpunkt.
Ja! Wir müssen auf Transparenz von Lobbyinteressen und Einflussnahmen sehr genau achten. Das ist genauso wichtig.

Dass die derzeitige Ausgestaltung unserer repräsentativen Demokratie auf Bundesebene in eine immer gefährlichere Schieflage gerät, das
können wir seit Jahren beobachten. Die Konsequenz ist: Es gilt die demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger effektiv zu verbessern.
Letztlich - unabhängig von allen Einflüssen - ist es die Bevölkerung, die am
besten beurteilen kann, ob ihre Interessen vertreten werden. Wenn dies nicht der Fall ist, gilt es ein anderes Korrektiv zur Verfügung zu haben
als Protestwahlen, denn die sind wirklich gefährlich, viel gefährlicher als einzelne Fehlentscheidungen bei Gesetzesprojekten, und seien sie
noch so dumm oder noch so bedauerlich.

Mit freundlichen Grüßen, Moritz Klingmann

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